Mit unseren Tipp pro Deutschland müssen wir wohl vorsichtig sein
Hier schon mal ein Blick in die Glaskugel von M. Netenjakob:
Ort: die Wohnung meines türkischen Schwagers.
Personen: meine türkische Frau, meine türkischen Schwiegereltern, mein türkischer Schwager, seine türkische Frau, sowie meine deutschen Eltern.
20 Uhr: ich komme mit meinen Eltern an und gehe an einer Türkei- und einer Deutschlandfahne im Flur vorbei ins Wohnzimmer, wo für das Spiel der Spiele "nur ein paar Kleinigkeiten" vorbereitet wurden: ein großer Korb mit Fladenbrot, ein Korb mit Sesamkringeln, zwei große Schüsseln Reis, vier Teller Köfte, fünf Teller Fleischspieße, eine sehr große Schüssel Salat (etwa in den Ausmaßen eines Kinder-Planschbeckens), drei Teller mit türkischer Pizza, jeweils eine Schale kleine grüne Oliven, große grüne Oliven, kleine schwarze Oliven, kleine schwarze schrumpelige Oliven, große schwarze Oliven, große schwarze schrumpelige Oliven, sowie gefühlte 120 Kilo Schafskäse. Immerhin können auch wir etwas beisteuern: Zwei Tüten Kartoffel-Chips.
20 Uhr 12: der Fernseher wird eingeschaltet, und zwar in ohrenbetäubender Lautstärke - türkische Tradition. Das hat zur Folge, dass man sich zur Unterhaltung anbrüllt. Hinzu kommt die Grundregel, dass von fünf Türken immer mindestens drei mit dem Handy telefonieren müssen - insgesamt eine atemberaubende Klangkulisse, die den Baulärm am Chlodwigplatz wie sanftes Bachgeriesel anmuten lässt. Während Johannes B. Kerner eine mittelmäßige Pointe versemmelt, Jürgen Klopp der Kamera stolz das Ergebnis seines letzten Zähne-Bleechings präsentiert, und dieser Schweizer Schiedsrichter mit einer kompletten Tube Gel im Haar erläutert, dass passives Abseits nur dann passiv ist, wenn der Stürmer auch wirklich passiv ist, schimpft mein Schwiegervater darüber, dass Torwart Volkan immer noch gesperrt ist ("Da sitzen zwei Griechen in der Uefa-Kommission") und erklärt mir, warum gleich drei Türken gelbgesperrt sind: "Der Schiedsrichter hatte eine griechische Schwiegertochter." Obwohl meine Eltern Intellektuelle sind, akzeptieren sie die Haltung meines Schwiegervaters - als Ausländer darf man schließlich ausländerfeindlich sein. Das gehört ja zu der fremden Kultur dazu, und wenn man wirklich tolerant ist, toleriert man auch die Intoleranz. Zumindest ein Stück weit.
20 Uhr 40: die deutsche Nationalhymne. Niemand singt mit. Meine Eltern äußern, dass sie ein merkwürdiges Bauchgefühl haben, wenn da so viele mitgrölen. Mein Schwiegervater schaut sie ratlos an.
20 Uhr 43: die türkische Nationalhymne. Mein Schweigervater, sein Sohn und dessen Frau singen sehr laut mit, während meine Schwiegermutter noch lauter mit der Türkei telefoniert. So kriegt meine Frau trotz höflichen Bemühens akustisch nicht mit, wie mein Vater das Mitgrölen von Hymnen in Deutschland historisch einordnet.
20 Uhr 45: Das Spiel wird angepfiffen. Mein Vater lügt: "Ich hoffe, der Bessere möge gewinnen." Mein Schwiegervater lügt: "Das hoffe ich auch." Lügen sind für ein multikulturelles Miteinander oft recht praktisch.
21 Uhr 13: Podolski schießt das 1:0 für Deutschland. Ich will laut schreien, unterdrücke es aber, so dass ein gequältes "hhhhhmmmmpfff" dabei herauskommt. Meine komplette Freude geht so stark nach innen, dass mir mein ohnehin schon überlasteter Magen jetzt richtig weh tut. Mein Vater versucht so auszusehen, dass er sich nicht freut, was schwer ist, wenn man so breit grinst. Meine Mutter äußert Mitleid mit dem armen Torwart ("Och guck mal, wie traurig der guckt."). Derweil ergeht sich der türkische Teil der Familie in einer kollektiven Schimpftirade. Mein Schwiegervater hüpft wie eine Mischung aus Louis de Funès, HB-Männchen und dem türkischen Trainer vor dem Fernseher und beschimpft die türkischen Abwehrspieler. Auch sein Sohn und seine Frau schimpfen auf Türkisch, aber in ihre Handys, aus denen ebenfalls laute türkische Schimpftiraden herausdröhnen. Gleichzeitig beweist meine Frau, dass man Flüche auch kostengünstiger per SMS verschicken kann.
21 Uhr 30: Pause. Während Johannes B. Kerner eine weitere Pointe vergeigt und Jürgen Klopp das schöne Tor von Podolski mit albernen weißen Strichen verunstaltet, erläutert der Schweizer Pomaden-Schiedsrichter, warum Podolski, der zunächst im passiven Abseits stand und dann aktiv wurde, trotzdem nicht im aktiven Abseits war, weil das aktive Abseits durch die Ballberührung eines Türken aufgehoben wurde. Dafür hat mein Schwager nur einen Satz übrig: "Wallaha, Schri ist büyük Arschloch!"
22 Uhr 29: Inzwischen steht es 3:0 für Deutschland. Mein Schwiegervater hat alle türkischen Spieler verflucht und ihnen die Pest an den Hals gewünscht. Mein Vater und ich versuchen, nicht zu glücklich auszusehen. Meine Mutter möchte Tuncay adoptieren, weil der auf der Tribüne so unglücklich guckt.
22 Uhr 32: Die Türken haben mit 4:3 gewonnen. In der letzten Minute fiel das 3:1 und in den drei Minuten der Nachspielzeit jeweils ein Treffer. Meine türkische Familie droht mich und meine Eltern im kollektiven Freudentaumel fast zu erdrücken. Fünf Türken telefonieren gleichzeitig mit acht Handys und zwei schnurlosen Telefonen. Dazu dröhnen die ersten Autohupen von draußen - mein Trommelfell ist an der Grenze der Belastbarkeit angekommen.
0 Uhr 21: Die Trauer ist vergessen, ich feire mit meinen Eltern und knapp 100 000 Türken auf dem Ring eine große Party. Jaaa, wir sind im Finale! Meine Eltern und ich schwenken die Türksiche Fahne und singen von den Bläck Fööss "Ruut un wieß, wie lieb ich dich!"